24. September 2020

Zu Besuch bei Gabriele Reinemer

Gabriele Reinemer in ihrem Atelier in Radebeul. Foto: André Wirsig
Gabriele Reinemer in ihrem Atelier in Radebeul.
Wer dieser Tage in Radebeul eine Flasche der neuen Weinedition erwirbt, die anlässlich des alljährlichen Wandertheaterfestivals aufgelegt wird, hat eine unmittelbare Begegnung mit Gabriele Reinemer. Die gebürtige Dresdnerin, seit Jahrzehnten in Radebeul ansässig und als Bildhauerin sowie Plastikerin weit über die Region hinaus bekannt, ist Schöpferin des Flaschenetiketts der 2020er Edition mit dem aufsteigenden Phönix. Dieses antike Thema ist durchaus mit dem übrigen Schaffen der Künstlerin verbunden, hat sie doch verschiedentlich mythologische Überlieferungen aufgegriffen. Dabei ging es ihr aber nicht so sehr um die alten Götter, sondern um existenzielle Fragen des Menschseins. Sie stehen zweifellos im Zentrum ihres Schaffens, auch wenn der Mensch als Gestalt in ihren jüngeren, verstärkt zeichenhaften Arbeiten, die von afrikanischen Kulturen inspiriert sind, nur indirekt anwesend ist.

Gabriele Reinemer nutzt für ihr Schaffen ein breite
Das Motiv der Weinsonderedition 2020 an der Wand im Atelier.
Das Motiv der Weinsonderedition 2020 an der Wand im Atelier.
s Spektrum künstlerischer Mittel: vom ursprünglichen bildhauerischen Handwerk, sei es in Stein oder vor allem in Bronze, über die Arbeit mit keramischen Stoffen, des weiteren mit Holz, aber auch mit Papiermasse oder modifizierten „Fund“materialien wie Verpackungen. Und wie die meisten Bildhauer ist sie eine exzellente Zeichnerin. Die Basis für ihr vielfältiges Tun schuf sie sich während eines Maskenbildnerstudium an der HfBK Dresden (1967 -1970) und entsprechender Tätigkeit an der Staatsoperette sowie in einem folgenden Studium der Plastik an der Kunsthochschule in Berlin-Weissensee (1977 – 1982).

Zunächst war – ganz den Traditionen von Seitz, Grzimek oder Cremer folgend - die menschliche Figur ihr Thema, häufig in Form von Torsi. Es entstanden aber auch Reliefs und Porträts. Die Bevorzugung des Torsos mag darin begründet sein, dass für sie Fragen der Verletzlichkeit und Gefährdung des Menschseins eine große Rolle spielen. In diesem Kontext beschäftigte sie schließlich zunehmend die Geschlechterfrage, weshalb sie auch Mitbegründerin der Dresdner Sezession 89 wurde. Künstlerisch stehen dafür in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Torsi und – gewissermaßen als Hoffnungsfigur, als positive Utopie – der Merkmale beider Geschlechter vereinende Hermaphrodit, der bis in jüngste keramische Arbeiten auftaucht. Nach 1989 stellte sich für Gabriele Reinemer aber auch zunehmend die Frage notwendiger Wehrhaftigkeit, weshalb manche Figuren mit Nägeln bewehrte Brüste erhielten.

In jüngerer Zeit beschäftigte die Künstlerin in hohem Maße die gedankliche Verarbeitung längerer Reisen nach Nord- und Schwarzafrika, die auf solche nach Italien und Israel folgten.
Sie hinterließen tiefe Eindrücke, erweiterten ihre künstlerische Perspektive, was auch zu einer Veränderung der Ausdrucksformen führte. Es entstanden abstrakte Objekte, teils bestückt mit Tierfiguren, die an Häuptlingsstäbe/zepter und kultische Gegenstände erinnern und durchaus auch ein spielerisches Element in sich tragen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine Bemalung, die gleichwohl nur scheinbar ethnologisch konnotiert ist. Letzteres betrifft auch architektonisch anmutende, geschlossene Formen, die an arabisch beeinflusste, traditionelle Bauwerke erinnern, welche die Künstlerin zudem teils mit abwehrenden metallenen Spitzen versehen hat. Inspiriert ist dies wohl nicht zuletzt durch die Wahrnehmung der wachsenden Konflikte in den einst besuchten Gegenden, die Reisen und Austausch mittlerweile unüberwindbare Grenzen setzen.

Alles in allem sind die aus Papiermasse und Holz geschaffenen Objekte Umformungen von im Gedächtnis Bewahrtem, auch Skizziertem, das das Geheimnisvolle afrikanischer Gesellschaften aufnimmt und zugleich die globale Problematik reflektiert. Diese Arbeiten sind für Gabriele Reinemer zum Mittel der Wahl geworden, um das globale Grundrauschen unserer Zeit, das Katastrophen aller Art denkbar werden lässt, künstlerisch auszudrücken.

Aufgeschrieben von Dr. sc. phil. Ingrid Koch.

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